-
Momente
-
Momente
-
Impressum
Erste Auflage: Januar 2006
Copyright © 2006 by Harry Morath
Texte & Zeichnungen: Harry Morath
Lektorat: Sabine Kronenberg
Satz: Tom Wirth
Druck: Basler Druck+Verlag AG, Basel
Printed in Switzerland
ISBN-10: 3-033-00706-6
ISBN-13: 978-3-033-00706-6VorwortWenn wir uns erinnern, tauchen Bilder und Geschichten auf, die in uns haften blieben. Oft sind es Kleinigkeiten, die für uns aber wichtig waren, manchmal sogar entscheidend für das ganze Leben. Angeregt von einer ähnlichen Arbeit der Künstlerin Petra Köhle, habe ich nach solchen Ereignissen, Erinnerungsstücken und Erlebnisbildern in meinem eigenen Leben gesucht. Hier ist eine Handvoll dieser Lebensperlen aufgereiht. Ihr Schimmer liegt zwischen den Zeilen. -
Inhalt
Alte Tante 9 Hüte 49 Ambeissi 11 Im Schnee 51 Andy 13 In der Kammer 53 Arbeitszimmer 15 Ipanema 55 Beinschienen 17 Marcel Marceau 57 Candomblé 19 Milch 59 Catherine 21 Osaka 61 Delta 23 Pelzmantel 63 Der Baum 25 Rosalie 65 Drei Könige 27 Schneewittchen 67 Evelyn 29 Schwarztee 69 Exhibitionist 31 Segelflug 71 Fido 33 Stossgebet 73 Gartenbank 35 Tante Louise 75 Glugger 37 Taschenradio 77 Gold Crème und Velo 39 Taxi 79 Griechenland 41 Verdunkelung 81 Haarwasser 43 Weisshorn 83 Henry 45 Zwei Frauen 85 Hilton 47 -
Alte TanteIn Basel ist die Fasnacht eines der wichtigsten Ereignisse im Jahr. Als Buben haben auch wir uns kostümiert und sind durch die Strassen gezogen. Als der Sommer kam und wir wie jedes Jahr oft den Rhein herunter schwammen, kamen wir auf die Idee, dies einmal in den Fasnachtskostümen zu tun: ich als Clown, René als Alte Tante. Wir stiegen bei der Eisenbahnbrücke ins Wasser und schwammen los. Plötzlich vermisste ich René. Er war untergegangen. Noch sah ich einige Meter von mir entfernt einen schwarzen Fleck unter der Wasseroberfläche. Panik ergriff mich. Ich schwamm zu ihm und konnte seinen Kopf aus dem Wasser ziehen. Doch René blieb stumm. Auf dem Rücken schwimmend gelang es mir mit allergrösster Kraft, ihn ans Ufer zu bringen. Dort begann er glücklicherweise zu husten. Er spuckte viel Wasser aus. Fast wäre er ertrunken, weil sich ihm die Junte des Fasnachtskostüms um die Beine gewickelt hatte.
-
AmbeissiMein Freund Willy ging jeden Morgen auf den Berg ins Hochmoor, um dort «Turben zu böckeln», das heisst die frisch gestochenen Torfbriketts so aufzuschichten, dass sie trocknen konnten. Diese Arbeit machten die Kinder. Sie mussten jeweils zwei Briketts so aufeinander legen, dass ein Türmchen von acht Briketts entstand, das man Böckli nannte. Willy verdiente dort pro Tag drei bis vier Franken. Er musste das Geld zu Hause abgeben, denn seine Familie war arm. Eines Morgens ging ich mit ihm auf den Berg. Wir standen schon um vier Uhr auf. Wer später als sieben Uhr erschien, wurde nicht mehr eingestellt. Wir waren ungefähr zehn Kinder, die alle «böckelten». Mit meinen sechs Jahren war ich der Jüngste. In der Mittagspause erhielten wir eine Suppe. Bei dieser Gelegenheit foppten mich die anderen Kinder: Schau wie der aussieht mit seiner Brille! Ha ha ha, «wie es Ambeissi», ha, ha. Wie eine Ameise: Die Kritik setzte mir sehr zu. Bin ich so hässlich, dass mich die anderen Kinder deswegen nicht mögen?
Um 14 Uhr war unsere Arbeit beendet. Es gab keinen Nachschub mehr. Die aufgeschichteten Böckli wurden gezählt und der Lohn ausbezahlt. Ich erhielt eine richtige Lohntüte mit zwei Franken. Der Betrag enttäuschte mich. Ich ging mit meinem Freund den Berg hinunter und nach Hause. Ich schluckte und verbarg meine Tränen, weil ich meine Enttäuschung nicht zeigen wollte. Doch als ich zu Hause die Mutter sah, weinte ich wegen dem kleinen Verdienst. Doch meine Mutter sagte: Sei stolz, das ist dein erster selbst verdienter Lohn. Aber dass mich die Kinder damals verspotteten, hat mich für mein Leben ein wenig geprägt. -
AndyMein Freund Michi arbeitete seit zwei Jahren in Kapstadt. Er schrieb mir, ich solle ihn über Weihnachten besuchen. Da im Januar zudem eine Segel-Regatta von Kapstadt nach Rio de Janeiro stattfand, flog ich zu ihm in der Hoffnung, ein Schiff zu finden, das uns als Segler auf die Regatta mitnähme. Wir fanden tatsächlich ein Segelschiff von zehn Metern Länge, auf dem noch zwei erfahrene Segler fehlten, und heuerten an. Ausser dem Eigner, seiner Freundin und uns gehörte noch ein Engländer namens Andy zur Crew. Wir halfen mit, das Schiff zu überholen und mit allem auszurüsten, was für eine Überquerung des Südatlantiks benötigt wird. Dann segelten wir los. Die Wachen waren tagsüber in Einheiten von vier und nachts von drei Stunden am Stück eingeteilt. Als wir bereits zweieinhalb Wochen unterwegs waren, und Michi und ich am Nachmittag in den Kojen lagen, hörten wir einen Schrei. Wir eilten an Deck: Andy war über Bord gegangen. Er zog das Spinnaker-Segel auf, das zu früh vom Wind erfasst wurde und ihn am Fall (Seil) den Mast hinauf riss. Als er losliess, fiel er ins Meer.
Es gibt genaue Anweisungen, wie sich die Crew in einem solchen Fall zu verhalten hat. Sie darf den über Bord Gegangenen nicht aus den Augen verlieren. In den hohen Wellen verschwindet der Kopf eines Schwimmenden rasch, und das vorgeschriebene Rettungsmanöver nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch. Der Eigner, der am Ruder stand, drehte das Boot jedoch ohne Rücksicht auf Segelstand und Wind einfach um und gelangte glücklicherweise trotz back stehenden Segeln schnell in die Nähe des Verunglückten, so dass wir ihn aufnehmen konnten. Die Haut seiner Handflächen war vom Seil weggescheuert, doch er lebte und war in Sicherheit. Die nächste Woche fiel er für den Betrieb aus. Der Gedanke, wir hätten ihn aus den Augen verloren beim Manöver, beschäftigte uns noch monatelang. -
ArbeitszimmerMein Vater arbeitete abends und am Wochenende viel zuhause. Er hatte darum ein grosses Arbeitszimmer mit einem Schreibtisch. An der Wand stand ein Schrank mit Büchern und Akten und in der Mitte des Raumes stand eine Couch. Nach dem Mittagessen begab er sich jeweils in sein Arbeitszimmer, um dort eine kurze Siesta zu halten. Manchmal ging meine Mutter mit, doch dann schlossen sie die Türe ab. Eines Tages tappte ich gedankenlos hinein. Die Eltern hatten vergessen, die Türe abzuschliessen.
-
BeinschienenAls ich geboren wurde und mich mein Vater im Frauenspital zum ersten Mal sah, sagte er zu meiner Mutter: Der Bub gleicht Herrn Asal ein wenig. Herr Asal, ein Bekannter der Familie, hatte eine Hakennase. Und der Arzt sagte zu ihr: Das Kind wird nie richtig gehen können. Meine Mutter war bestürzt und weinte sehr. Sie steckte meine Beinchen auf Anraten des Arztes in Schienen. Diese Tortur dauerte jedoch nur zwei Monate. Dann stellte sich heraus, dass ich ganz gerade Beine und auch eine gerade Nase hatte.
-
CandombléWir waren in Bahia und wollten an einem Candomblé- oder Macumba- Ritual teilnehmen. Man sagte uns, dass solche Feste fast ausschliesslich in den Favelas stattfänden. Obwohl man uns gesagt hat, dass man dort als Tourist niemals hingehen solle, entschieden wir uns zu gehen. Der Concièrge trieb zwei Jungen auf, die uns in eine Favela führten. Nach längerem Suchen fanden wir ein Haus, wo an diesem Abend ein Candomblé-Ritual stattfand. Wir wurden sehr herzlich empfangen und mit Häppchen bewirtet. In einem Raum waren ungefähr 20 Personen versammelt, die sich auf der Tanzfläche rhythmisch zu den Trommeln bewegten. Zwei Frauen fielen auf, die in Trance gefallen waren und mit Parfum übergossen wurden. Sie waren dabei, mit den Göttern in Kontakt zu treten. Eine Stunde später fielen sie bewusstlos zu Boden. Man hat uns auch heimlich die Geister gezeigt, obwohl man sie an diesem Abend nicht stören durfte. Es waren riesige Puppen, die in einem anderen, fensterlosen Raum Essen vorgesetzt kriegten. Im Nu war es drei Uhr früh. Wie sollten wir jetzt in die Stadt zurückkommen? Wir gingen auf Lehmwegen, bis wir eine geteerte Strasse erreichten. Ein alter Volkswagen kam glücklicherweise dahergefahren, liess sich stoppen und nahm uns mit in die Stadt.
-
CatherineEines Sommers beschloss ich, Spanisch zu lernen. Ich reiste nach Barcelona und belegte dort für drei Wochen einen Anfängerkurs für Ausländer. Ausserdem hoffte ich, dort eine Freundin zu finden, denn ich war schon einige Zeit allein. In einer Klasse für Fortgeschrittene entdeckte ich eine junge Frau, die mir gut gefiel. Ich beobachtete sie immer in der Pause. Sie war beliebt und stets von anderen Schülern umringt. Darum war es mir nicht möglich, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Einmal hatte sie Kirschenpaare über den Ohren hängen. Das gefiel mir sehr. Am letzten Schultag sah ich meine Chancen endgültig davonschwimmen. Also fasste ich Mut, ging auf sie zu und lud sie zum Nachtessen ein. Danach ist sie meine Frau geworden.
-
DeltaIch war ein begeisterter Deltasegler. Mit dem Gleiter durch die Luft zu schweben, ist ein erhabenes Gefühl. Im Luftraum ist es ganz still. Unten im Tal sieht man die kleinen Häuser und hört die Stimmen der Leute bis hoch hinauf. Das ist ein einzigartiges Erlebnis. Ich hatte "meinen Berg". Er war bequem erreichbar mit einer kleinen Seilbahn, und man durfte den etwas sperrigen Deltagleiter mitnehmen. Unten im Tal landete ich gewöhnlich neben einem Bach und einem kleinen Elektrizitätswerk.
Einmal flog ich bereits zu tief, als ich zur Landung ansetzen wollte. Vor mir sah ich die Drähte der riesigen Hochspannungsleitungen. Ich flog direkt auf sie zu. Panik ergriff mich. Ich hatte gelernt, dass man in einem solchen Fall beschleunigen und auf das Kabel zusteuern solle, um dann den Drachen im letzten Moment hinaufzureissen. Doch vor mir war nicht nur ein Kabel, sondern sieben Leitungen. Zum Abdrehen war es zu spät. Ich sah der Katastrophe hilflos entgegen. Sah mein Ende kommen. Doch plötzlich realisierte ich, dass die Leitungen nach oben aus meinem Blickfeld verschwanden. Der Gegenwind hat meinen Flug abgebremst und mich langsam sinken lassen. Ich war gerettet. -
Der BaumMeine Grossmutter besass ein kleines Haus mit drei Wohnungen. In der einen wohnte sie selbst. Als sie starb, habe ich das Haus geerbt. Fünfzig Jahre später hat der Gärtner den kleinen Garten hinter dem Haus wie üblich aufgeräumt und die Pflanzen geschnitten. Als ich das Arbeitsergebnis besichtigte, musste ich mit Schrecken feststellen, dass er den schönen, grossen Baum gefällt hatte. Auf Wunsch der Mieter, der Baum hätte zu viel Schatten gemacht. Diesen Baum hatte ich als Sechsjähriger gemeinsam mit meiner Grossmutter gepflanzt. Sie sagte dabei: Er wird mit dir wachsen und mit dir gross werden. Jeder Mann muss im Leben einmal einen Baum pflanzen. Und nun war er abgehauen, gestorben. Darauf hatte mich meine Grossmutter nicht vorbereitet.
-
Drei KönigeIch war mit meiner Frau zu einem Ball ins Hotel «Drei Könige» eingeladen. Wir waren sechs Personen und verbrachten einen sehr fröhlichen Abend zusammen. Plötzlich wurde die Musik unterbrochen und bekanntgegeben, John F. Kennedy sei erschossen worden. Wir waren fassungslos und gingen auf die Strasse hinaus. Als wir in den Tanzraum zurückkehrten, spielte das Orchester wieder, und die Gäste tanzten weiter. Auch meine Frau und ich tanzten. Aber die Musik klang anders. Und wir berührten uns nicht mehr wie ein verliebtes Paar, sondern umfassten einander wie gemeinsam trauernde Freunde.
-
EvelynIch war noch keine 20 Jahre alt, als meine Eltern an einen Kongress nach Kopenhagen eingeladen wurden. Ich durfte mit. Am Nachmittag vor der Heimkehr besuchte ich den «Tivoli»-Vergnügungspark. Da gab es eine Berg- und Talbahn mit Tunneln und Geistern. Ich kaufte ein Ticket und setzte mich auf die zweitvorderste Bank. Ausser mir war nur noch ein Mädchen im Wagen, das ganz vorne sass. Bevor der Zug abfuhr, kletterte ich nach vorne und setzte mich neben das Mädchen. Sie hiess Evelyn. Wir redeten miteinander, und in den Tunneln umarmten und küssten wir uns. Am Abend gingen wir zusammen in ein Dancing. Das Orchester spielte bekannte und romantische Songs. Wir verliebten uns über beide Ohren und tanzten bis in den Morgen hinein. Anschliessend blieb mir gerade noch Zeit, mich im Hotel umzuziehen, denn der Zug fuhr bereits um sieben Uhr. Am Bahnhof erwartete mich Evelyn wieder. Wir umarmten und küssten uns unter Tränen.
Zwölf Jahre später erhielt ich einen Telefonanruf von ihr. Sie kehrte gerade von einem langen Aufenthalt in Kanada zurück. Als sie erfuhr, dass ich geheiratet hatte, beendete sie das Gespräch bald. Seither habe ich nichts mehr von ihr gehört. -
ExhibitionistAls Schülerin war ich schüchtern und introvertiert. Meine Eltern wohnten auf dem Land. An einem Frühlingstag machte ich mit dem Fahrrad eine Tour in der Umgebung. Ich fuhr auf einsamen Feldwegen. Plötzlich überholte mich ein Auto und parkierte einige hundert Meter vor mir mitten auf dem Weg. Als ich das Auto erreichte, stand der Fahrer mit offener Hose vor dem Kofferraum und präsentierte sein Geschlecht. Ich senkte den Kopf, beugte mich über den Lenker und fuhr so schnell wie möglich vorbei.
Aber nach 50 Metern kam eine gewaltige Wut über mich. Ich sprang vom Fahrrad, ergriff einen am Boden liegenden Ast und ging schreiend auf den Exhibitionisten los. Der Mann war von diesem furiosen Angriff total überrascht. Entsetzt rettete er sich mit einem Satz ins Auto, ohne seine Hose zuzuknöpfen, liess in grosser Hast den Motor an und legte den Gang ein. Das Auto sprang rückwärts, geradewegs in einen Baum. der das Heck eindrückte. Dann legte der Gebrandmarkte den Vorwärtsgang ein und machte sich blitzschnell davon. -
FidoEines Abends lernte ich eine junge Frau kennen, die ihren Hund ausführte. Ihr Hund hiess Fido. Sie war Schriftstellerin. Wir befreundeten uns. Sie schrieb Gedichte, manchmal auch für mich. Wenn wir uns liebten, kroch Fido immer unters Bett. Das war mir unangenehm. Die Frau war ausserordentlich mager. Sie ernährte sich fast ausschliesslich von Rotwein, aber sie war nie betrunken. Plötzlich einmal sagte sie: Komm, wir heiraten. Sie hat es ernst gemeint. Es war das einzige Mal in meinem Leben, dass mir eine Frau einen Heiratsantrag gemacht hat. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Meine Zukunft stellte ich mir nicht mit ihr als Frau vor. Deshalb reagierte ich nicht auf ihren Antrag. Sie zog dann weg, und ich verlor sie aus den Augen. Als ich drei Jahre später mit ihr Kontakt aufnehmen wollte, war sie tot.
-
GartenbankIch wohnte am Rhein. Im Sommer ging ich mit meinem Schulfreund René täglich im Fluss schwimmen. Eines Tages, als wir wieder schwimmen gingen, hörten wir einen Schuss. Wir machten uns sofort auf die Suche nach der Ursache des Knalls, fanden aber nichts entlang des Rheinwegs. Bei unserem Aufbruch sass ein Mann auf der Ruhebank für Spaziergänger neben dem Gartentor meines Wohnhauses. Er trug einen grauen Anzug und einen tief ins Gesicht gezogenen Strohhut – und schlief gemütlich. Als wir vom Schwimmen zurückkamen, sass er immer noch dort. Da bemerkten wir die Pistole, die neben ihm auf der Bank lag. Wir riefen die Polizei herbei. Als die Beamten kamen, schob einer der Polizisten den Hut des Schlafenden zurück. In seiner Stirn war ein Loch. Der Mann war tot. Blut war nirgends zu sehen.
-
GluggerIch war sieben Jahre alt, als mir meine Tante einen Batzen schenkte, um «Glugger» zu kaufen. Für das Geld gab es 50 Murmeln. Am Mittwoch war die Schule schon um elf Uhr aus. Ich ging mit meinem Geld zu «Franz Carl Weber» und kaufte dort 50 der schönsten «Glugger», die ich je gesehen hatte. Sie waren aus Glas und hatten innen eine gelbe Blume. Ich war stolz. Noch nie hatte ich so schöne und so viele Murmeln besessen. Auf dem Heimweg traf ich einen Jungen, der mit mir «gluggern» wollte. Wir knieten auf den Boden und begannen zu spielen. Der Junge war nicht nur älter, sondern auch geschickter. Er gewann Spiel um Spiel und nahm mir eine Murmel nach der andern ab. Aufzuhören, liess mein Stolz nicht zu. So verlor ich alle meine schönen Murmeln, auch die allerletzte. Ich stand auf, ging heimwärts und begann zu schluchzen. Zu allem Unglück kam noch, dass ich zu spät dran war für das Mittagessen, und ich fürchtete mich vor der Schelte. Tatsächlich hatten meine Eltern und meine Schwester bereits angefangen zu essen, als ich ankam. Die Schelte blieb jedoch aus, als sie den verweinten Buben sahen, und verwandelte sich in ein Trostwort.
-
Gold Crème und VeloMeine Mutter war eine gepflegte Frau. Sie hatte schöne Hände. Für deren Pflege verbrauchte sie monatlich ein Töpfchen "Gold Crème". Sie schickte mich regelmässig mit dem Velo zu einem Drogisten an der Schützenmattstrasse, um das Töpfchen wieder mit Gold Crème auffüllen zu lassen. Das kostete 40 Centimes. Die Mutter hat dann die 40 Centimes fein säuberlich in das Haushaltungsbuch eingetragen, wie es mein Vater verlangte, denn wir waren in unserer Familie zu Sparsamkeit erzogen.
Das Velo hatte mein Vater einem Gärtner abgekauft, der dieses so umgebaut hatte, dass ich die Pedale gerade knapp erreichen konnte. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mit meinem Vater an einem Sonntagmorgen in die Gärtnerei ging, wo das frisch lackierte Occasions- Velo für mich bereitstand. Ich war nicht nur erfreut, sondern auch ein bisschen enttäuscht, denn ich hatte mir natürlich ein neues Velo gewünscht. Die Sparsamkeit hatte auch mich getroffen. -
GriechenlandEinmal lud ich einen Freund zum Segeln ein für zwei Wochen. Er war ein bekannter Werber. Ich wartete bereits in Griechenland auf ihn. Nachdem ich ihn am Flugplatz abgeholt hatte, segelten wir gleich los. Nach dem Ablegen habe ich im Schiff nochmals alles kontrolliert. In der Kühltruhe fehlte das Fleisch. Mein Freund hatte es weggeworfen. «Ich esse kein Fleisch», meinte er nur dazu. Manchmal kochten wir, doch meistens assen wir in den Tavernen der kleinen Häfen. Auf der Rückreise fragte er mich am Flughafen: «Kannst du mir ein wenig griechisches Geld geben? Ich möchte meiner Frau ein kleines Geschenk mitbringen und habe bis jetzt noch keine Drachmen gewechselt.»
-
HaarwasserIch hatte wieder einmal keine Freundin und war unglücklich. Da sagte mir ein Freund, er kenne eine Frau, die ebenso dringend einen Freund suche. Also machte ich mich auf den Weg zu ihr. Als ich nach einer Stunde Fahrt dort eintraf, öffnete sie mir die Tür. Sie hatte eben ihre Haare gewaschen und mit einem übel riechenden Produkt eingerieben. Das ist mir so unangenehm in die Nase gestiegen, dass ich ihr nur Grüsse von meinem Freund ausrichtete und gleich wieder zurückfuhr.
-
HenryDas Telefon schellte. «Hallo Harry, bist du's?» Ich zuckte zusammen. «Henry, bist du's?» Ich erkannte ihn sofort, nach so langer Zeit. Henry war mein bester Jugendfreund, der vor 45 Jahren verschwand, ohne für jemanden eine Nachricht zu hinterlassen. Seither hatte ich nie mehr etwas von ihm gehört. Man munkelte, er sei nach Amerika ausgewandert, aber sicher wusste es niemand. In der Jugend waren wir immer zusammen und machten alles gemeinsam: Schwimmen, Rudern, Fischen, wir bauten Radios, Sender und auch Wasserskis. Plötzlich, nach so vielen Jahren, meldete er sich also zurück. Er kam mit seiner vierten Frau aus den USA, um seine Heimat zu besuchen. Bei unserem Wiedersehen realisierte ich, dass mein Freund Henry mit einem amerikanischen Akzent sprach, entsetzlich dick und ein mir völlig fremder Mensch geworden war.
-
HiltonWir sassen in der Lobby des Hotels «Hilton» in New York und warteten auf den Bus, der uns zum Flugplatz bringen sollte. Meine Frau reichte mir ihren Pelzmantel und sagte: «Ich muss mal. Pass gut auf den Mantel auf!» Ich legte ihn über meine Knie und hielt ihn fest. Vor mir an der Bar holten die Kellner die bestellten Getränke. Eine Frau kam her und beschwerte sich lautstark bei einem Kellner, dass sie immer noch nicht bedient worden sei. Der Disput erregte Aufsehen, weil sich die Dame etwas unflätig benahm. Als meine Frau zurückkam, fragte sie: «Wo ist meine Reisetasche?» Sie war weg, obwohl sie direkt neben mir auf dem Boden gestanden hatte.
-
HüteMeine Freundin wohnte in Zürich. Wir kannten uns seit über einem Jahr und liebten uns sehr. Sie war gross, blond und sexy. Wenn sie am Morgen aufstand, hörte sie immer klassische Musik. Das gefiel mir. Manchmal dachten wir bereits ans Heiraten. Ich fuhr jedes Wochenende von Basel nach Zürich. An einem Samstag, als ich in Zürich angekommen war und mich sehr auf sie freute, wollte sie erst mal nichts von mir wissen. Sie wollte zuerst in die Stadt gehen und einen Hut kaufen. Also gingen wir zusammen zum «Jelmoli». Dort lagen auf einem Tisch viele Hüte. Eine nette Verkäuferin bediente sie, doch keiner der Hüte gefi el meiner Freundin. Jedes Mal, wenn sie einen Hut anprobiert hatte, schmiss sie diesen auf den Tisch zurück und machte gegenüber der Verkäuferin missbilligende Bemerkungen. Dieses Verhalten schockierte mich so, dass ich nach Basel zurückfuhr und die Freundschaft aufl öste. Später wurde mir bewusst, dass ich im Affekt reagiert hatte. Trotzdem kehrte ich nicht zu ihr zurück und sah sie nie mehr.
-
Im SchneeMein Freund und ich fuhren auf der Klewenalp Ski. Es war ein grauer Tag, und wir wollten früh nach Hause. Da sahen wir im Tiefschnee neben der Piste zwei Burschen, die neben einem gestürzten Skifahrer knieten. Wir fuhren hin und fragten, was geschehen sei. Die beiden antworteten, der Mann sei gestürzt und habe das Bewusstsein verloren. Sie müssten ihn beatmen. Ob wir helfen könnten, denn es sei anstrengend und einer von ihnen müsse den Arzt holen! Also beatmeten auch mein Freund und ich den Bewusstlosen. Es dauerte sehr lange, bis der Arzt kam. Er musste erst mit der Bahn hoch und dann noch mit einem Schlitten zur Unfallstelle gefahren werden. Als er sich den Gestürzten ansah und seinen Puls fühlte, sagte er: «Dieser Mann ist schon über eine Stunde tot.»
-
In der KammerIch ging mit einer Journalistin an eine Kunst-Ausstellung in die Messehallen. Auf unserem Rundgang entdeckten wir eine Tür, von der wir nicht wussten, was hinter ihr verborgen war. Neugierig öffnete ich sie. Ein Lager für Bilder, Rahmen, Leitern etc. wurde sichtbar. Wir gingen hinein und schlossen die Tür ab. Drinnen machten wir Liebe. Es war für beide eine prickelnde Vorstellung, dass die Besucher aussen vorbei strömten und nichts von unserem Tun ahnten. Plötzlich klopfte es an die Tür. Wir erschraken und brachten rasch unsere Kleider in Ordnung. Es pochte ein zweites Mal: «Wer ist da drinnen, – aufmachen!» Wir verhielten uns still, doch unsere Nerven waren aufs Äusserste gespannt. Nachdem es draussen ruhig geworden war und wir fünf Minuten lang nichts mehr hörten, öffneten wir vorsichtig die Tür. Ausser ein paar Besuchern, die uns anstarrten, war niemand in Sicht, kein Personal der Messe. Wir gingen weiter durch die Ausstellung, als sei nichts gewesen.
-
IpanemaMichi und ich segelten von Cape Town nach Rio de Janeiro. Nach fast vier Wochen schlechten Schlafs in den engen Schiffskojen, bezogen wir an der Copocabana ein Hotel. Nicht nur dieser Strand, auch derjenige von Ipanema war berühmt, speziell wegen des Songs «The Girl of Ipanema». Dorthin gingen wir, um zu baden. Viele Leute sassen da auf ihren Handtüchern und unter Sonnenschirmen und genossen den Tag. Wir zogen uns aus und gingen schwimmen. Als wir zurückkamen, waren unsere Habseligkeiten weg: Jeans, Hemden, Schuhe und Portemonnaie, alles fort. Die einzige Möglichkeit, wieder ins Hotel zu gelangen, war per Taxi. Wir stellten uns also, nur in Badehosen bekleidet, an den Strassenrand. Es dauerte fast eine Stunde, bis uns ein Taxi mitnehmen wollte. Als wir vor dem Hotel anhielten, verlangte der Taxifahrer, dass ich ihm mein feines, goldenes Halskettchen als Pfand dalasse, bis wir mit dem Taxigeld wiederkehrten. Wir holten also den Zimmerschlüssel an der Rezeption, rannten in unser Zimmer. Ich zog mich halbwegs an, zählte das Geld ab und kehrte zum Hoteleingang zurück. Das Taxi war verschwunden.
-
Marcel MarceauAls junger Mann ging ich für einen einjährigen Studienaufenthalt nach Washington. Meine damalige Freundin blieb zu Hause. Wir versprachen uns Treue. In Washington besuchte ich eine Vorstellung von Marcel Marceau, einem berühmten Mimen. Mein Bruder, der mit ihm bekannt war, hatte mich gebeten, ihn zu grüssen. Ich lud eine attraktive junge Frau ein, mich in die Vorstellung zu begleiten. Nach der Aufführung gingen wir zu Marceau in die Garderobe. Er schrieb für uns eine Widmung, die ich aber aus Höflichkeit auf meine Begleiterin ausstellen liess. Dann begleitete ich die Frau nach Hause. Als sie fragte, ob ich noch mit nach oben käme, lehnte ich ab. Ich dachte an meine Freundin in der Schweiz. Aber es gab noch einen anderen Grund. Diese Frau übte eine so starke Anziehung auf mich aus, dass mir klar war, wenn ich jetzt nach oben ginge, würde ich hier bleiben und Amerikaner werden.
-
MilchWährend des Krieges mussten meine Schwester und ich jeden Abend zu einem Bauernhof gehen. Er lag am Berghang, eine gute halbe Stunde von unserem Haus entfernt. Da erhielten wir zwei Liter Milch ohne Lebensmittelmarken. Auf dem Rückweg entdeckten wir einmal unter einem Nussbaum nahe beim Hof grosse Nüsse. Wir stellten den Milchkessel ab und begannen, die Nüsse einzusammeln. Plötzlich kam der Bauer, brüllte uns an und lief mit einem Stecken auf uns zu. Wir liessen die Nüsse fallen und rannten davon. Der Milchkessel blieb unter dem Baum stehen. Zu Hause mussten wir es der Mutter beichten. Von dem Tag an gab es keine Milch mehr vom Bauern.
-
OsakaIch war in Tokyo, musste aber in Osaka einen Einkauf tätigen. Man hatte mir den Namen der Strasse, wo ich hin musste, Japanisch aufgeschrieben. In Osaka erkundigte ich mich bei Passanten nach dem Weg, doch leider sprach niemand Englisch. Alle nickten freundlich und gaben mir jeweils eine andere Richtung an. Drei Stunden später war mein Einkauf endlich erledigt. Es war aber noch zu früh für die Rückreise mit dem Zug. Ich kam an einem Unterhaltungslokal vorbei. Den Eingang zierten zwei gemalte Frauenbeine. Da alles Japanisch angeschrieben war, wusste ich nicht, um was für ein Lokal es sich genau handelte. Neugierig trat ich ein. Zwei schwarz gekleidete Männer nahmen mich in Empfang und geleiteten mich mit einer Taschenlampe durch lange, unbeleuchtete und schwarz tapezierte Flure ins erste Stockwerk. Es war so finster, dass man die eigene Hand vor den Augen nicht sah. Nur einmal blickte ich in einen kleinen Kinosaal, in dem jedoch kein Film lief. Vorne sass eine Frau in der Dunkelheit. Als wir weitergingen, öffnete sich rechts ein kleiner Raum mit einem Doppelbett. Alles war mit ganz wenig ultraviolettem Licht beleuchtet. Vor diesem Raum stiess mich einer der Begleiter so heftig von hinten, dass ich auf das Bett fiel. Dieser brutale Schlag versetzte mich in eine solche Wut, dass ich laut schrie und mich auf den Angestellten stürzen wollte. Im letzten Moment wurde mir klar, dass ich hier nur verlieren konnte. Da sah ich am Ende des Flurs einen schwachen Lichtstreifen unter einer Türe schimmern. Ich rannte darauf zu. Zum Glück war sie nicht verriegelt, so konnte ich über eine Feuertreppe ins Freie gelangen. Hätten die beiden es anders gewollt, wäre ich nie mehr nach Tokyo zurückgekehrt.
-
PelzmantelDer Winter kam. Meine Mutter, die aus einer Musikerfamilie stammte, liebte Opern, Operetten und Schauspiel und ging gern ins Theater. Die Damen der besseren Gesellschaft traten da in Pelzmänteln und schöner Toilette auf. Elegant gekleidet war meine Mutter immer. Sie hatte auch einen alten Rotfuchs, ein Erbstück von ihrer Mutter, aber keinen Pelzmantel. Da stiess mein Vater auf ein Inserat, in dem ein «Occasions-Biber-Mantel» angeboten wurde. Er schickte die Mutter am nächsten Morgen los, sich dieses bezahlbare Stück anzusehen. Als wir am Abend nach Hause kamen, stand die vor Glück strahlende Mutter da in ihrem «Biber». Sie hatte Tränen in den Augen.
-
RosalieAls ich in die USA auswanderte, bestieg ich in Calais ein altes Schiff, das mich nach Canada brachte. Ich war erst 19 Jahre alt und noch sehr schüchtern. Gelegentlich sprach ich mit einem mageren, bleichen Mädchen. Sie hiess Rosalie und emigrierte ebenfalls in die Vereinigten Staaten. Nach der Ankunft des Schiffes in Montreal verloren wir uns aus den Augen. Sechs Monate später traf ich sie zufällig an der Georgetown University in Washington wieder. Sie lud mich auf eine Tasse Tee in ihre Studentenwohnung ein. Danach verloren wir den Kontakt abermals. 40 Jahre später, beim Skifahren in den Rocky Mountains, stellte mir mein Freund ein Ehepaar vor. Die Frau hiess Rosalie und war mager. Ich fragte sie, ob sie vor 40 Jahren mit einem Emigranten-Schiff nach Canada gekommen sei? Sie sagte: «Ja».
-
SchneewittchenSie war schön, charmant und hoffnungsfroh. Man nannte sie Schneewittchen. Ihr Herz war voller Zukunftsfreude. Ich liebte sie, und sie hoffte. Doch es wurde nichts mit uns beiden. Wir waren zu verschieden, kamen aus völlig anderen Kulturen. Eines Tages verliess ich sie. Zu stolz und zu grosszügig, liess sie mich ziehen. Später lernte sie einen anderen Mann kennen, der sich nach einiger Zeit auch von ihr trennte. Sie blieb mit einem Sohn zurück, in Armut. Sie schlug sich als Sekretärin mit einem winzigen Lohn durch, der auch noch für ihre Mutter reichen musste. Ihre Männer waren auf und davon. Als ich sie viel später einmal anrief, sagte sie, ihr Leben laufe ganz ruhig weiter. Ich wusste jedoch, dass sie Sozialhilfe bezog und an Krebs erkrankt war. Sie war immer noch zu stolz, es mir zu sagen.
-
SchwarzteeAn den Wochenenden fuhren wir regelmässig in unser Ferienhaus. Wenn wir am Samstagmittag von der Schule nach Hause kamen, wartete der Vater bereits im Auto, und los ging's. Am Ziel angelangt, mussten wir Kinder zuerst jäten, Ranken aufbinden, hacken und wischen. Um vier Uhr gab es dann eine Pause. Wir Geschwister sassen auf der Eckbank und kriegten Tee. Schwarztee mochte ich damals überhaupt nicht, wofür mein Vater aber kein Verständnis aufbrachte. Eines Samstags hatte meine Mutter Mitleid und machte mir einen Sirup. Als der Vater das sah, packte er das Glas, öffnete das Fenster und warf Glas und Sirup in den Garten hinaus. Fortan gab es wieder Schwarztee.
-
SegelflugMein Freund Louis ist Segelfluglehrer. Er hat sogar das Akrobatik-Brevet. Manchmal lädt er mich zum Fliegen ein. Einmal war das Wetter so gut, dass wir bis zur Rigi gleiten konnten. Dort flog Louis über dem Berggipfel Kunststücke, so dass die Touristen alle zu uns hinauf schauten. Für den Weg über den See zurück zum Flugplatz drehte er den Segelflieger auf dem Rücken. Allmählich hatten wir beide ganz dicke, blaurote Köpfe, da wir ziemlich lange kopfüber in den Gurten hingen. Endlich wieder in Normallage, glitten wir entlang eines Bergabhangs. Da tauchte plötzlich direkt vor uns ein Transportseil auf. Ich sah uns bereits daran zerschellen, doch Louis gelang es im letzten Moment, unten durch zu schiessen. Als wir gelandet waren, wurde mir so schlecht, dass ich drei Tage brauchte, um mich zu erholen.
-
StossgebetAls ich 10 Jahre alt war, durfte ich bereits alleine mit dem Skilift aufs Weisshorn. Einmal war das Wetter sehr trüb – und oben der Nebel so dicht, dass er mich wie eine weisse Decke einhüllte. Ich konnte keinen Meter weit sehen und wusste nicht, ob es auf- oder abwärts ging. Mit kleinen Schritten tastete ich mich vorwärts und liess mich sofort fallen, wenn die Skier zu gleiten begannen. Längst war ich von der Piste abgekommen. Ich wusste, dass es hier Felswände gab und ich dort hinunterstürzen könnte. Ich hoffte inbrünstig, dass sich der Nebel lichte. Seit einer Stunde war ich unterwegs, und noch immer umhüllte er mich. Ich hatte Angst und war erschöpft. Da setzte ich mich in den Schnee und begann zu beten. Und wie ich da sass mit dem Blick ins Ungewisse, hatte ich das Gefühl, dass sich die Wolken bewegten. Und tatsächlich, ich konnte zuerst etwas Boden und später etwas Landschaft sehen – genug, um vorsichtig ins Tal zu fahren.
-
Tante LouiseTante Louise heiratete mit 40 Jahren einen Redaktor. Wir Kinder waren erstaunt, dass eine «so alte Frau» noch heiratet. Ich war damals neun Jahre alt. Unsere Familie war schon am Vorabend der Hochzeit angereist und übernachtete im Haus des Bräutigams. Am Hochzeitstag zog ich das Sonntagskleid an und machte mich «schön». Im Badezimmer des Redaktors stand auf dem Tablar ein Rasierwasser der Marke «Pitralon». Ich nahm es einfach und spritzte mir davon ins Gesicht. Es brannte ein wenig und roch sehr stark. Plötzlich hatte ich Angst, als Dieb erkannt zu werden. Wenn ich jetzt zu den anderen träte, würden sie sofort merken, dass ich vom «Pitralon» gestohlen hatte. Ich wusch also mein Gesicht kräftig mit Seife, so dass man nichts mehr riechen konnte. Als ich das Badezimmer verliess, hatte ich Herzklopfen. Das schlechte Gewissen begleitete mich während der ganzen Hochzeitsfeier.
-
TaschenradioWir waren auf Mallorca in den Ferien. Unser Hotel lag im Landesinnern. Auf der Fahrt zu einem Golfplatz sahen wir im Rasen neben der Strasse einen Mann, der auf dem Rücken lag und sich ausruhte. Daneben stand ein kleiner Hund, der laut bellte. Als wir näher kamen, hörten wir Musik. Die kam aus der Brusttasche des Mannes. Dort hatte er ein kleines Taschenradio. Beim näheren Hinsehen merkten wir, dass der Mann tot war. Ich nahm das Taschenradio aus seiner Brusttasche und stellte es ab.
-
TaxiMein Segelboot befand sich in Mallorca. Mit drei Freunden wollte ich damit nach Frankreich segeln. Vom Flugplatz Mallorca brachte uns ein Taxi bis an den Quai im Hafen. Nachdem wir unser Gepäck im Schiff verstaut hatten, gingen wir in ein Restaurant zum Nachtessen. Die Vorfreude auf unsere gemeinsame Fahrt war gross, und wir feierten ordentlich und kehrten erst gegen Mitternacht zum Boot zurück. An einen Laternenpfahl gelehnt, sass da unser Taxifahrer. Seit über zwei Stunden wartete er auf uns. Er kam auf mich zu und sagte, ich hätte ihn in Francs Français statt in Pesetas bezahlt. Francs waren damals fünfzehnmal so viel wert wie Pesetas. Er wollte mir das Geld zurückbringen.
-
VerdunkelungWährend des Krieges mussten nachts alle Häuser verdunkelt werden. Kein Lichtschimmer durfte nach draussen dringen. Auch die öffentlichen Gebäude und die Strassen waren verdunkelt. In dieser Zeit fuhr mein Vater an eine Versammlung in Olten. Beim Aussteigen bemerkte er in der Dunkelheit nicht, dass der Zug noch fuhr. Er wurde gegen einen Eisenpfeiler geschleudert und blieb bewusstlos liegen. Erst nach einer Stunde fand man ihn überhaupt im Dunkeln. Meine Mutter besuchte ihn täglich im Spital. Am Samstag, Sonntag und Mittwochnachmittag nahm sie mich jeweils mit. Das Bewusstsein des Vaters wollte und wollte sich nicht wieder einstellen. Die Ärzte hatten ihn bereits aufgegeben. Am 30. Tag schlug er plötzlich die Augen auf und fragte: «Wo bin ich?»
-
WeisshornAls begeisterter Deltasegler flog ich gerne von hohen Berggipfeln ins Tal. Manche Bergbahnen waren bereit, die sperrigen Deltagleiter, man nennt sie heute auch Hängegleiter, am frühen Morgen zu transportieren, wenn sie noch kaum Passagiere hatten. So stand ich also an einem klaren Morgen im Schnee auf dem Gipfel des Weisshorns. Ich montierte den Gleiter, schnallte mich an und stürzte mich in die Tiefe. Da packte mich plötzlich eine Windböe und drängte mich gegen eine Felswand. Ich manövrierte den Gleiter mit ganzer Kraft in eine Steilkurve, so dass es mir gelang, an dem Felszahn vorbei zu segeln. Nur meine Schuhe knallten an den Fels. Als ich im Tal unten ankam, spürte ich den Herzschlag bis an den Hals.
-
Zwei FrauenEine meiner Freundinnen arbeitete als Flight Attendant. Sie war hübsch und hatte schwarzes Haar. Gleichzeitig wollte ich eine andere Frau besser kennen lernen. Auch sie war hübsch und hatte blondes Haar. Also lud ich sie auf mein Segelschiff ein, zusammen mit fünf Freunden. Wir wollten einen Törn von Sardinien nach Mallorca machen. Ich war bereits auf dem Boot und wartete auf meine Freunde. Als ich sie am Flughafen von Alghero abholte, nahm mich einer beiseite und flüsterte mir ins Ohr: «Wir haben noch eine zweite Frau mitgebracht. Sie sprach uns auf dem Zürcher Flughafen an. Sie sagte, sie käme auch mit, wolle den Bootsbesitzer aber durch ihr Kommen überraschen. Sie habe gerade Zeit zwischen zwei Flugeinsätzen.» Nun waren also beide Frauen gleichzeitig auf dem selben Boot! Ein bisschen besser konnte ich die Blonde nicht kennen lernen. Was ich mir dabei erhofft hatte, fiel ins Meer.
-
MOMENTE ist ein lose verbundener Reigen ganz alltäglicher, aber auch ungewöhnlicher Lebens-Ereignisse, die Erstaunen, Freude oder Schrecken ausgelöst haben und in Erinnerung geblieben sind. MOMENTE also, wie wir sie alle erlebt haben könnten. Harry Morath hat sie gesammelt, aufgezeichnet und illustriert.ISBN-10: 3-033-00706-6
ISBN-13: 978-3-033-00706-6